Wer etwas wagt, gewinnt

14. 03. 2021

Wenn wir Bolivien hören, denken wir an die kilometerlange Salzwüste des Salar de Uyuni, bunte Röcke der indigenen Frauen, an das öde Land des Altiplanos und Lamas. Doch was macht Bolivien noch aus?

Anfang 2016 fanden wir uns mit mehr als 20 Leuten in Bestwig ein. Wir waren alle furchtbar aufgeregt. Dürfen wir am Ende in unser Wunschland und die präferierte Einsatzstelle gehen…?
Damals war uns nicht bewusst, dass all die Mitfreiwilligen, ob sie nun ins gleiche Land oder auf einen anderen Kontinent reisen, eine Gemeinsamkeit entwickeln würden. Jede/r Missionar/in auf Zeit (MaZ) erlebt in seinem/ihrem Dienst unterschiedlichste Herausforderungen. Man kämpft mit sprachlichen Hürden, zerstörten Illusionen und Heimweh. Die Monate des Einsatzes waren aufregend, jeder Tag anders, und am Ende unglaublich bereichernd.


Wie verhalten sich die Bolivianer/innen den MaZ gegenüber? Das stereotype Bild des Bolivianers ist wohl freundlich, offen und meist gut gelaunt. Es lässt vermuten, aufgrund der Wirtschaft und Industrie, dass sie jedoch eher faul sind. Stereotyp würde jedoch auch bedeuten, dass die Deutschen alle gefühlskalt sind, bei 0 Grad das ganze Jahr im Wollpullover leben, jeden Tag 18 Stunden arbeiten und ausschließlich Bier trinken. Die Freundlichkeit der Bolivianer/innen jedoch ist offensichtlich, genauso wie die Offenheit neuen Kontakten gegenüber. Das hat jedoch den Effekt, dass manche Menschen zu Unverbindlichkeit neigen, denn zur selben Zeit mit drei Menschen an verschiedensten Orten zu sein, ist schier unmöglich. Es herrscht eben ein anderer Wind: ihre Arbeitswelt macht ihr Leben aus, in Deutschland hingegen glauben viele, ihr Leben erst nach der Arbeit leben zu können.


Meine Entscheidung, ein paar Monate außerhalb Deutschlands zu verbringen, war lange klar gewesen. Die Neugier trieb mich schlussendlich sogar über den großen Teich, über Wochen liefen die Vorbereitungen bei den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel. In mein Projekt, das Hogar Teresa de los Andes, ein Behindertenheim, kam ich eher unfreiwillig. Meine Vorstellung war ein Kinderheim gewesen. Später stellte es sich jedoch als Glücksgriff heraus. Desto näher der Flugtermin rückte, desto nervöser wurde ich. Würde man mich vom Flughafen abholen? Würde ich vor Ort klarkommen? Wie würde es sprachlich klappen? Doch als mein 23 kg Koffer abgegeben war und ich mich mit Reisepass und dem Flugticket für die nächsten 16 Stunden in der Hand auf meinem Fensterplatz wiederfand, war mein Gedanke „auf ins Abenteuer!“


Während des Anflugs auf Santa Cruz, nach 10.000 km, erstrahlte diese riesige, in Ringen aufgeteilte Stadt in einem Sonnenaufgang, der magisch wirkte. Mein neues Zuhause teilte ich ab jetzt mit 120 Kindern und 5 kolumbianischen Brüdern der Fraternidad de la Divina Providencia. Die Vormittage half ich in der Krankenstation und bei der Zahnärztin. Danach durfte ich in der Schule helfen, mit den Kindern Projekte durchführen oder in der Bäckerei Kuchen backen. Jeden Tag stand etwas Neues auf dem Plan. Neues beinhaltet auch Toilettenpapier welches in den Mülleimer gehört, fehlendes Wasser in der Duschleitung, exotische Krabbeltiere wie kreischende Grillen auf dem Moskitonetz und Skorpione, die schamlos in Zimmer der Freiwilligen eindringen, ohne Rücksicht. Woher soll man denn als Europäerin wissen, ob dieses kleine winzige schwarze Tierchen mit Stachel ungefährlich ist oder doch hochgiftig? Zum Glück gibt es auch in Cotoca funktionierendes Internet, wenn auch die Eltern am Ende der Telefonleitung zunächst nicht Bescheid wissen.


Die geografische Distanz, die klimatische Differenz und der historische Hintergrund beeinflussen das alltägliche Leben. Während man in den meisten Haushalten in Deutschland, Lebensmittelvorräte für mehrere Tage oder Wochen finden kann, bevorzugen die Bolivianer/innen das tägliche Essen von Hähnchen (gegrillt oder frittiert), Yuca, Reis und dazu Fritten in Gesellschaft. Gelegentlich versuchte ich mir ein Schmunzeln zu verkneifen, wenn sie sich selber als ‚dritte Welt Land‘ bezeichnen, denn aus Ihrer Perspektive scheint dies negativ zu sein. Dabei unterschätzen sie wie angenehm die Entschleunigung sein kann, die Gesellschaft der Familie und die entspanntere Sicht auf alle Schwierigkeiten des Lebens. Nicht zu unterschätzen sind die Schätze dieses Landes, welche andere zu ihren Gunsten nutzen möchten und dabei einzigartige, atemberaubende Landschaften zerstören. Da fragt man sich doch, ist das notwendig?
 

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Nach etwas weniger als einem Jahr, saß ich Ende Juni wieder im Flugzeug nach Deutschland. Meinem Zuhause? Die Monate waren rasend schnell vergangen, es hatte gute und auch kritische Situationen gegeben. Hatte sich etwas geändert? War meine Sichtweise auf die Welt nun anders? Fühlte oder dachte ich anders? Doch nun stand ich einer wichtigen Frage Auge in Auge gegenüber, eine der Lieblingsfragen der Deutschen: Wie geht es weiter? Wo wirst du jetzt studieren oder arbeiten?

Während unsere Mitschüler aus Schulzeiten mittlerweile ihr zweites Semester beendet hatten, standen wir MaZler/innen jetzt vor derselben Frage wie sie vor einem Jahr. Kurz gefasst: wir hatten unser Leben für ein Jahr pausiert. Schön für eine bestimmte Zeit, aber eben doch nicht ein Leben lang. Nun mussten auch wir uns dieser Frage stellen. Mein persönlicher Traum, das Medizinstudium, war unverändert. Da war jedoch noch eine klitzekleine Hürde: Der Numerus Clausus in Deutschland. Während eines Gesprächs in Bolivien hatte ein ehemaliger Freiwilliger aus dem Projekt in Cotoca in einem bedeutenden Nebensatz gesagt: „Wenn du unbedingt Medizin studieren willst, wieso schaust du dir nicht mal die Unis in Santa Cruz an? Bestimmt gibt es eine Universität, die Medizin als Studiengang anbietet.“ Gut, also nutze ich ein paar Urlaubstage um mal die Nase in die medizinischen Fakultäten von Bolivien zu stecken. Im universitätseigenen Museum und Labor war es geruchsarm, im Präparationssaal jedoch kam mir ein wenig parfumartiger Geruch entgegen. Später sollte ich feststellen, warum Formalin bestimmt kein nettes Parfüm wäre. Kopfschmerzen - Hallo?!


Auch nach einem Jahr Südamerika sind Entscheidungen nicht unbedingt leichter zu treffen. In einem Gespräch fragte man mich: „Hast du Liebeskummer?" Zugegebenermaßen die Wortwahl passte nicht, aber es drückte mein Gefühl sehr gut aus. Somit packte ich im Sommer 2018, nach einem Jahr Praktika und Arbeit auf deutschem Boden, wieder die Koffer und flog nach Bolivien. Den Vorlesungssaal teile ich jetzt zur Hälfte mit Bolivianern und zur anderen Hälfte mit Brasilianern, multikulti also.

Der Alltag sieht ganz anders aus als zu Zeiten meines Freiwilligendienstes, trotzdem besuche ich „meine" Kinder noch und begleite auch die MaZ in meinem Projekt. Im Februar diesen Jahres machten Robert und ich das Zwischenseminar für die MaZ in Bolivien.

Bolivien ist eine tägliche Herausforderung, die eine Menge Möglichkeiten bietet, sofern man es zu lässt. Flexibel und auf modernem Wege finden die Bolivianer/innen Lösungen für Schwierigkeiten.

Leonie Haermeyer

Leonie in Bolivien

 

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